Freitag, 14. April 2017

"Überall", flüsterte sie, "überall."

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Bevor ich selber Kinder bekam, gehörte ich so gar nicht zu den Menschen, die verklärt und verzückt auf Babies und überhaupt Kinder reagierten. Im Gegenteil: Ich konnte mit ihnen gar nichts anfangen.
Legte man mir ein fremdes Kind in den Arm, reagierte ich eher mit Panik: "Nehmt es mir bloß wieder ab, bevor ich was kaputtmache."
Ich hatte so gar keine Idee, so gar kein Gespür dafür, was ich mit einem Baby, mit einem Kleinkind anfangen sollte.

Meine Kinder, meine Söhne haben mich über die Jahre eine Liebe gelehrt, die ich bis dahin nie gekannt hatte: tiefe, bedingungslose Liebe. Heute empfinde ich sie mehr denn je als einen Teil von mir, untrennbar, unlösbar - und wenn sonst nichts mehr geht, für sie geht es.
Der Älteste war von Beginn an mein eigenes Abziehbildchen: verträumt, verklärt, ein Seelchen, das alles hinterfragte, alles wissen wollte und so lange keine Ruhe gab, bis er all seine Fragen beantwortet fand.
Als er anfing, abends auszugehen, lag ich die ersten Nächte so lange wach, bis ich erleichtert das Drehen des Schlüssels im Türschloss vernahm.
Als er den Führerschein erwarb und sein erstes Auto kaufte, lief ich die ersten Wochen immer so lange unruhig durch die Wohnung, bis ich erleichtert das Drehen des Schlüssels im Türschloss vernahm.
Der Jüngere war ein Sonnenscheinchen, meist friedlich, meist selig und er hat viel gelacht.
Wenn ich weiß, dass er ausgeht, ertappe ich mich oft dabei, dass ich nachts oder gleich morgens in whatsapp schaue, wann er zuletzt online war - und sinke erleichtert in die Kissen zurück.
Auch er besitzt jetzt einen Führerschein und sucht sich derzeit rauf und runter, welches sein erstes Fahrzeug sein soll. Viel zu viele PS, viel zu große Maschinen - und auch wenn ich das dank Testosteronspiegel nachvollziehen kann, so hänge ich aktuell dennoch flehend an seinen Beinen: "Als erstes Fahrzeug sollte es nicht so eins sein."

Die Entscheidung, ihnen die Wohnung zu überlassen und über vierhundert Kilometer weit weg zu gehen, ist mir sehr schwer gefallen. Mein Lebensmodell hatte eigentlich nicht vorgesehen, den Jüngeren schon "herzugeben", der zehn Wochen später erst 19 wurde. Meine Wunschvorstellung war immer die, dass wir in einer Stadt wohnen, von mir aus jeder in seiner Wohnung, aber wenn man einfach Lust drauf hat, lädt man sie sich auf einen Kaffee, auf ein Mittagessen oder was auch immer ein, ratscht über Gott & die Welt, löst all die kleinen Alltagsproblemchen... Man lebt sein Leben, aber irgendwie lebt man es immer noch miteinander.

Sie sind beide noch dabei, ihren Weg im Leben zu finden, und während der eine ziemlich genau weiß, was er will, ist der andere dabei, zunächst das Chaos in seinem Inneren zu ordnen und zu lösen.. Als feststand, dass der Ältere das Unternehmen verlässt, in dem auch ich arbeite, habe ich mich viele Nächte schlaflos herumgewälzt und mich am meisten vor dem Moment gefürchtet, in dem auch er es erfuhr. Ich fürchtete mich vor dem, was es mit ihm machen würde.
Mir ist völlig klar, dass man seine Kinder nicht vor allem im Leben beschützen und bewahren kann, dass sie lernen und wissen müssen, wie sie die schwierigen Situationen bewältigen können.
Dass ich ihnen auch gar nicht alles abnehmen darf.
Mir ist jedoch auch bewusst, dass jeder Mensch mit unterschiedlicher Resilienz ausgestattet ist, und was den einen stärker hervorbringt, kann den anderen eines Tages zerbrechen.

Ich schaue auf die Fotos meiner Söhne, die auf meinem Schreibtisch stehen.
Ich betrachte meine Söhne, wenn wir auf dem Sofa lümmeln. Wenn sie essen, wenn sie schlafen, wenn es ihnen gut geht.
Seit 27 Jahren lebe ich mit dem einen und seit 21 Jahren mit dem anderen - und ich weiß, ohne meine Kinder bin ich.. nichts mehr. Es wird mich zerstören, wenn einem von ihnen etwas geschieht. Ich weiß, dass ich so stark nicht bin, das zu überstehen.

Oft lese ich Nachrichten, höre Nachrichten, wenn ich unterwegs bin.
Ich sehe Bilder von Kindern, in ihrem Gesicht, auf ihrer Kleidung ist Blut, ihre Kleider sind zerrissen, die Augen leer.. Es ist mir völlig egal, wer solche Bilder für sich propagiert. Weil die Tatsache, dass ein Kind, ein Mensch überhaupt in einen Krieg, zwischen die Fronten geraten ist, einen innerlich zerreißt. Alles krampft sich zusammen, weil man sich schuldig fühlt. Und es ist dabei ganz egal, ob man sich an einem Krieg beteiligt oder nicht.
Ich sehe die Bilder der hungernden Kinder in Afrika und in mir verkrampft sich alles auch bei dem Gedanken daran, wie unfassbar viel an Essen allein bei uns achtlos in den Müll geworfen wird.
Mir wird schlecht dabei, dass Nestle Brunnen in Afrika bohrt und Geld für Wasser von denen verlangt, die ohnehin schon zu den Ärmsten in der Welt zählen. Die ohnehin schon nichts mehr haben und zu Tausenden verhungern und verdursten.
Wie kann man weltweit Spezialisten nach Afrika entsenden, wenn die Ebola ausbricht, aber tatenlos zuschauen, dass Menschen verhungern??
"Das Versprechen eines Lebens", ein Film aus der Zeit des ersten Weltkriegs, basierend auf einer realen Geschichte. Drei Söhne hat die Familie weit über das Meer in den Krieg geschickt, und der Vater hinderte sie nicht daran. Er glaubte, es gehöre dazu, sie zu Männern gemacht zu haben. Während die Mutter der Söhne daran zerbricht, dass alle drei Söhne aus dem Krieg nicht heimkehren, schwört er ihr an ihrem Grab, dass er alle drei heimbringen wird, um sie zu Hause zu beerdigen.
"Sei gesegnet, wenn du vor deinen Kindern gehen kannst", heißt es darin.

Noch vor zwei Jahren, auf dem Weg zwischen M und L, betrachtete ich den blauen friedlichen Himmel über mir, hörte ich Musik und empfand so unendliche Dankbarkeit dafür, dass ich hier so in Ruhe fahren konnte und meine einzige Frage lediglich darin bestand, ob ich ein, zwei Stunden früher oder später am Ziel ankommen würde.
Der Krieg in Serbien, der Krieg in Tschetschenien, die Annektierung der Krim, der Krieg im Irak, in Syrien, in Afghanistan; es fühlt sich an, als sei die ganze Welt irre geworden, als sei die ganze Welt in Aufruhr, als bekämpfe jeder jeden; die Bombenanschläge in England, in Frankreich, in Spanien, in Schweden und auch bei uns.
Dass Trump über Afghanistan - angeblich im Kampf gegen den IS - eine Bombe abwerfen ließ mit über 8.000 Kilogramm Sprengstoff in ihrem Inneren, ließ mich fassungslos und stumm auf den Bildschirm starren.
Von 36 toten IS-Kämpfern ist die Rede - wer soll das glauben bei einer Reichweite der Druckwelle von einigen Quadratkilometern, in denen kein Überleben möglich sein soll? Wer soll glauben, dass es nicht wieder Unschuldige getroffen hatte - wie in jedem verdammten scheiß Krieg, weil sich niemand, einfach niemand dafür interessiert und jeder tote Zivilist als Kollateralschaden abgetan wird?
Und Trump legt sich zugleich mit Korea an.
Dabei hatte er etwas ganz anderes versprochen. Er hatte gesagt, dass er sich aus allem raushalten wollte, weil er nur ein einziges Ziel erklärte: "Make America great again". Als Präsidenten eines Landes habe ich ihn nie empfunden, aber als einen Kaufmann. Nennt mich naiv, aber ich dachte wirklich, er sei die bessere Wahl als die Clinton. Ich hatte doch wirklich darauf gehofft und gewünscht, dass er sich auf das konzentrieren würde, womit der sich auskannte: auf die Wirtschaft des eigenen Landes - ohne Kriegsmillionen. Aber ein Mensch wie er wird wohl immer nur nach seinen Beratern agieren können, er wird also nie etwas anderes als eine Marionette bleiben können.
War er nun tatsächlich die bessere Wahl - oder macht er alles nur noch schlimmer?
Im Grunde jedoch.. sind es doch aber alle Politiker, egal woher sie kommen.
Und hatte nicht unser Innenminister erst vor Wochen betont, dass Afghanistan zu den sicheren Herkunftsländern gehöre? Weil man ja offenkundig nicht nach Syrien abschieben kann, nimmt man die Afghanen, um noch rechtzeitig vor den Wahlen im September Zeichen zu setzen?
Nachdem man monatelang keinen Zweifel an der Richtigkeit dessen äußern durfte daran, unkontrolliert Millionen Menschen in das Land kommen zu lassen, weil sie ja auf der Flucht vor dem Krieg waren - wenn man sich nicht als Nazi beschimpfen lassen wollte?
Warum ist auf einmal der Amerikaner der Gute, der seit 1950 ungefähr alle zwei, drei, vier Jahre in mindestens einem fremden Land Krieg führte - und warum ist der Russe auf einmal der Böse?
Ich fühle mich an den kalten Krieg der 80er erinnert. Damals warens die Kapitalistenschweine und der Russe war der Gute, der Befreier. Heute ist es andersrum.
Amerika wählt den Trump statt Clinton.
England wählt den Brexit statt die EU.
Italien wird vielleicht folgen.
Ich hatte irgendwie die Hoffnung darin gesehen, dass die Menschen eines Landes sich nicht mehr beirren lassen, dass sie sich nicht mehr für dumm verkaufen lassen. Dass sie einen anderen Weg wollten als den bisherigen. Eine bessere Alternative als überall Krieg zu führen. Dass die Politik aufmerkt und Achtungszeichen versteht. Meinetwegen auch die im letzten Jahr gestiegenen Prozente der AfD. Glücklicherweise immer noch viel zu wenig Prozente, um tatsächlich in die Politik eingreifen zu können, andererseits frage ich mich: Welche wirklichen Alternativen zur jetzigen Regierung gibt es? Keiner hat es je besser gemacht - und auch unter einem hochgehobenen Martin Schulz sehe ich das nicht.

Ich will meine Kinder nicht in einem Krieg wissen. Ich will nicht meine Kinder begraben müssen. Schaue ich auf den Film mit Russell Crowe, dann hat sich die Kriegstechnik von damals so sehr verändert, da werden keine Kanonenwagen mehr herangekarrt und Bajonette geschwungen.
Hat die heutige Welt überhaupt noch eine Chance? Hätte sie die - wenn sie alle durchdrehen?
Fragt sich denn kein einziger von denen, was aus ihren eigenen Familien, Angehörigen, Kindern würde in einem solchen Fall? Sorgt sich denn kein einziger von denen um seine Familie?
Wir leben eine so moderne Zeit, wir haben so vieles entdeckt, entwickelt, vorangebracht - und den Menschen könnte es so gut gehen.
Stattdessen bereichern wir uns, indem wir den einen Kriegstechnik verkaufen und den anderen vorschreiben, wie viel sie für ihren Kaffee, ihren Kakao und ihre Gurken vergütet bekommen, vorausgesetzt, sie erfüllen die EU-Gardemaße. Stattdessen betreiben wir ausgewählte Medienberichte, um rechtzufertigen, dass man gar nicht anders konnte. Stattdessen wird der Mensch zugemüllt mit "Schwiegertochter gesucht", "Berlin Tag und Nacht" und all diese sinnbefreite, gequirlte Scheiße, von der ich mir einfach nicht vorstellen kann, dass man sich so etwas auch nur anschauen kann.

Ich weiß nicht, woran ich glauben soll. Abgesehen davon, dass ich überzeugt davon bin, dass es mehr Dinge zwischen Himmel & Erde gibt, die sich nicht logisch erklären lassen - und sie passieren trotzdem. Ich weiß nicht, was ich glauben soll und wem.
Ich schaue auf meine Kinder und alles, was ich mir wünsche, ist ein Leben in Frieden. Ein gutes Leben. Ich denke an den Rückflug von Indien vor einem halben Jahr und daran, wie inniglich ich das Beten lernte. Ich denke an Menschen, die sagen, für wen sie ihr Leben hergeben würden und wo ich immer dachte: "Das sagt sich alles so leicht."
Ja, das sagt es sich.
Aber ich für mich weiß: Ohne meine Kinder kann ich nicht sein. Wenn, dann mich - aber nicht sie. Nicht sie.

5 Kommentare:

Goldi hat gesagt…

Ohne Kinder kann ich Deine Gedanken nur zum Teil nachvollziehen, jedenfalls den Teil der Deine Jungs betrifft. Aber vielleicht weil ich eben nicht diese bedingungslose und uneingeschränkte Liebe einer Mutter kenne, schlucke ich auf eine andere Art und Weise beim Lesen dieser Zeilen und bin sehr, sehr froh, dass es Frauen gibt, die ihre Kinder über alles lieben und freue mich für Dich und Deine Jungs umso mehr das ihr euch habt.

Als ich gestern auf den sozialen Medien etwas angeteasert bekam mit "Mutter aller B.." und Afghanistan klickte ich weiter und dachte "Drohung, Säbelrasseln - muss ich mir heute nicht geben"

Die Nachrichten dann brachten Klarheit und mit den Bildern war mir mit einem Mal so schlecht, dass ich am liebsten geko.. hätte, aber ich konnte mich nicht bewegen nur die Tränen liefen.

Du sagst es erinnert Dich an den kalten Krieg, ja mich auch, als dann aber der Außenminister Russlands zur Sprache kam und gestern mitteilte "das ein weiterer Schlag vom frettchen tragenden Irren internationale Folgen haben werde" und mit der nächsten Meldung der Flugzeugträger im Verbund Richtung Korea unterwegs sei, da habe ich mich gefragt ob es in der Zeit so einen extremen Aufzug gab.

Tr.. hat all seine Wahlversprechen für das Inland bisher auf Eis legen können um sich und seinen Wählern was zu beweisen wird er, verzeih den Ausdruck, "Krieg spielen", denn ein Mann der in dieser Situation (Bomben auf Syrien) in der er nach dem Befehl gefragt, wird von Schokoladenkuchen spricht, und dann Syrien mit Afghanistan verwechselt, der weiß doch gar nicht wo er was anrichtet. Aber es ist geil für ihn wenn er Macht ausüben kann und diese vermeintliche Machtkarte wird er so lange spielen bis ihn jemand stoppt.

Und beim Schreiben frage ich mich dann, hat er da was ausgeplappert und vorangekündigt oder hat er sich im Nachhinein dazu entschlossen um sein Schokokuchengeschwubbel glaubhafter darzustellen, das er da auch mal eins von seinen Spielzeugen hinfallen lässt oder war das alles "Zufall"?

Nach den Nachrichten gestern abend habe ich meinen Lieben in den Arm genommen und für mich gedacht, dass es schön ist, das wir heute hier zusammen sind und wir dankbar für jeden gesunden Tag hier sein können. Ich hoffe es gibt nicht den großen Knall, aber ich befürchte das wir sehr nah dran sind und beten wird dann ebenso wenig helfen wie malen von Bildern.

Clara Himmelhoch hat gesagt…

Liebe Helma, danke für deinen ans Herz gehende und den Verstand appellierende Text, den ich so gut nachvollziehen kann. Der Abstand zu meinen Kindern ist allerdings weiter als bei dir, teilweise haben wir so wenig Kontakt, dass es mehr als traurig ist für mich. - Doch was in der Welt vorgeht und sich zum Teil auf einen Weltkrieg hin entwickelt, ist fürchterlich bedrohlich. Ich weiß nicht, ob Clinton auch so aggressiv gewesen wäre - aber das ist ja jetzt egal, jetzt ist Donald Präsident.
Ganz liebe Grüße zu dir von mir

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Goldi, jeder Mensch glaubt an etwas, an irgendetwas, das seine Hoffnung stützt und ihn jeden neuen Morgen die Augen öffnen und den Körper sich erheben lässt.
Gestern in jenem Film hieß es sinngemäß: "Wenn er an etwas glauben will, weil es ihm hilft, dann soll es so sein."
Vor einem halben Jahr auf dem Rückflug von Indien war ich vermutlich die einzige, die mit aufgerissenen Panikaugen und in die Armlehnen verkrallten Finger auf dem Sitz klammerte, weil die Maschine derart durcheinander gerüttelt wurde, dass ich beinah dachte "So das wars", während Herr Blau neben mir seelenruhig und mit der Augenbinde vor den Augen schlief und nur auf mein Rütteln, er solle sich anschnallen, unsanft knurrte: "Ich BIN angeschnallt!" :)
Er ist oft genug in seinem Leben geflogen, er kennt sich damit aus, und ihm glaubte ich in der vorletzten Nacht, als er mich im Arm hielt und sagte: "Mach dir nicht so viele Gedanken, es wird nichts passieren." Wahrscheinlich glaubt er sich selber nicht, aber seine Gelassenheit tat mir gut...

Liebe Clara, angesichts Eurer Geschichte hoffe und wünsche ich mir wirklich, dass die Bindung zwischen den Jungs und mir unkaputtbar bleibt. Man weiß ja nicht, mit wem sie mal ihr Leben verbringen werden und wollen, aber ich hoffe sehr, dass es eine gute Verbindung wird.

Anonym hat gesagt…

Chapeau! Nicht nur für die fast exakte Beschreibung meiner eigenen Gefühle (das mit dem Beten ist nicht meins)!!!
LG,
Marie,
die hier immer wieder schon seit längerem liest

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Marie, danke für Deine Zeilen! Das mit dem Beten überkam mich, als wir im Flugzeug derart durchgerüttelt wurden, dass ich fürchtete, ich steige dort nicht mehr lebend aus ;)