Mittwoch, 19. September 2012

Prägungen




"Es wird nicht gejammert und es wird nicht gebettelt", hieß es in meiner Kindheit immer. Zu der Zeit hatte ich noch zwei Omas, die eine in ihren Empfindungen klar, geradeaus und nüchtern; die andere weich, liebevoll und offen emotional. Ich bin wie die eine es war: weich und offen emotional. Nein - ich war es. Heute bin ich eher wie meine Mama und deren Mama: Keine Schwäche zeigen. Den Kopf oben halten, egal, wie weh das tut.
Ich weiß heute kaum noch, wie man um Hilfe bittet. Davor scheue ich mich wie der Elefant sich vor Mäusen.
Ich wage nicht zu zeigen, wie ich mich fühle, wenn es mir nicht gut geht.
Zu oft habe ich den Platz und den Raum dafür vermisst und stattdessen gehört: "Jetzt reiß dich doch zusammen." Oder Menschen sind aufgestanden und haben sich verabschiedet, weil sie plötzlich noch Wichtiges zu erledigen hatten oder am nächsten Tag früh raus mussten.
Oder gingen gleich ganz und für immer.
Das prägt.
Und wie es prägt.
"Humor ist der letzte Knopf, der verhindert, dass dir der Kragen platzt", hatte mir mal jemand geschrieben. Und ich fand, dass Galgenhumor immer noch zehnmal besser als Selbstmitleid ist.
Andererseits... Allein das Wort "Scheiße! Scheiße! Scheiße!" auszustoßen, kann schon unglaublich druckentlastend sein. Warum darf man also nicht heulen, wenn einem etwas schmerzt? Warum darf man nicht auch mal durchhängen und die eigenen Wunden lecken, damit sie einfach auch besser heilen?
Warum fühle ich mich schuldig und wie ein Hemmklotz, wenn Freund Schmerz mich ab und an hindert, das zu tun, was man sich vorgenommen hat? Warum fühle ich mich wie ein Jammerlappen, wenn die Welt um mich herum sich zu drehen beginnt und man mich fragt: "Ist alles ok bei dir? Du siehst gerade unglaublich grau aus im Gesicht" und ich sage: "allet jut!"
Als ich mir heute Morgen im Spiegel begegnete, habe ich mich erschrocken und gedacht: "Watt will die fremde Frau hier in meiner Wohnung??"
Und als ich heute Mittag an eine Verabredung heute Abend erinnert wurde - warum kann ich nicht einfach sagen: "Mir gehts komplett elend, heute nicht" - warum sag ich stattdessen "Sorry, aber mein Blutdruck is heut in den Keller gestiegen - wenn der gewusst hätte, datt ett da keeen Bier jibt, hätte der so ne Fisimatentchen aber gelassen, lass uns datt mal auf die nächsten Tage verschieben" und bin froh, dass da nicht weiter nachgehakt wird?
Warum bin ich vor Wochen vom Stuhl gefallen - und bin nicht daneben getreten? Und warum wage ich kaum, jemandem davon zu erzählen? Warum sind mir gestern Nachmittag die Beine eingeknickt und habe zu den anderen gesagt: "Watt? Ich doch nich. Braucht ihr ne Brille? Ich hab bloß zu wenig geschlafen."
Wenn ich mich stark zeige, soll ich Schwäche zeigen können.
Wenn ich mich schwach fühle, soll ich nicht jammern.
Sind es Extreme meiner Persönlichkeit, dass bei mir in mancherlei Hinsicht nur "alles" oder "nichts" geht? Oder ist es einfach nur meine Unsicherheit, weil ich es nur richtig machen will?
Lieben kann ich nicht nur ein bisschen - wenn ich wirklich liebe, dann mit Haut & Haaren und mein ganzes Leben lang.
Darum eigne ich mich nicht für Affären.
Hassen kann ich nicht - weil ich nicht so viel negative Energie besitze.
Darum eigne ich mich nicht als Krieger.
Echte Freundschaften kann ich nur mit ganzem Herzen führen - oder gar nicht mehr.
Darum löse ich mich inzwischen oder lasse zu, dass gelöst wird.
Und doch... Zwischentöne gibt es auch bei mir... Die werden jedoch irgendwie... meistens überhört...
Heute Abend bekam ich geschrieben "Du fehlst mir" - und mir stiegen die Tränen in die Augen.
Geschrieben habe ich ihr davon aber kein einziges Wort. Nur ein paar andere Worte. Ich weiß nicht, ob sie mich zwischen diesen Zeilen erkannt hat.
Nein, Spielchen spiele ich keine. Aber ich bin... geprägt.

...open the skys and burn it all away... cause i've been waiting all my life... forever waiting.. shine your light on me..."


2 Kommentare:

Stephan hat gesagt…

Hallo Frau Bloggerin,

ich wollte eigentlich nur wissen, was ein Hemmklotz ist, und bin so auf deiner Seite gelandet.

Tja, warum verhalten wir uns immer (meistens?) so, wie andere es von uns erwarten – oder wie wir denken, dass andere es von uns erwarten? Haben wir Angst davor, peinlich zu sein? Wollen wir Konfrontationen aus dem Weg gehen?

Psychologen kennen übrigens das Phänomen der sozialen Erwünschtheit – doch anstatt diese zu überwinden, betrachten sie sie als Verzerrung und entwickeln Methoden, um sie "herauszurechnen".

Als jemand, der viel mit Mode experimentiert und sich zumindest vor Menschen, die mir viel bedeuten, für seine Gefühle nicht mehr schämt, habe ich in meiner Zeit in den Niederlanden gute Erfahrungen gemacht; man kann eine viel tieferere Ebene des Verständnisses erreichen. Oft geht es anderen doch genauso, nur wenn sich niemand traut, den ersten Schritt zu wagen, dann findet man es nie heraus...

...und natürlich wird man dann manchmal verletzt aber auch Wut und Trauer gehören zum Leben und gehen dann auch wieder vorbei.

Ich bin gespannt auf den Ausgang meines Experiments in München!

Stephan

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Hallo Stephan,

vielen Dank für Deinen Kommentar :)

Ich denke, bei mir ist es eher die Veranlassung, in schwachen Momenten nicht zu hören "Mein Gott, was willst du denn,anderswo haben Kinder nichts zu essen" oder "Nimm dich zusammen" oder das Gefühl vermittelt zu bekommen, dass für mich in den Momenten, wo ich über Dinge sprechen möchte, die mir weh tun, mich verletzen oder mich bedrücken, einfach kein Raum da ist... Dass es abgetan wird, weil vielleicht der Gegenüber überfordert oder einfach auch nicht willens ist, sich mit mir auseinanderzusetzen. Das betrifft ja letztlich nicht nur Partnerbeziehungen, sondern auch zwischenmenschliche Bindungen gleich welcher Art.
Ich bin sicherlich kein Heulkeks, aber dennoch ein Mensch mit Empfindungen, Träumen,Wünschen, Hoffnungen - und ich habe lernen müssen zu entscheiden, ob ich überhaupt und wann ich etwas sagen oder zeigen darf.
Das hat mir viel von meiner Authentizität genommen - und von meiner Unbeschwertheit.
Wenigstens aber habe ich das wiederum erkannt - und steuere inzwischen dagegen :)
Ich bin und bleibe lieber.. Mensch, mit allem, was dazugehört.
Der dann und wann den ersten Schritt geht.

Ich wünsche Dir viel Erfolg für das Experiment!

Miss Helma :)