Freitag, 12. August 2011

Nachtgedanken

Meine Oma hat früher immer die Traueranzeigen gelesen, wohl auch, um immer zu wissen, ob jemand gestorben war, den sie kannte. Als ich noch Kind war, hab ich manchmal neben ihrem Sessel gestanden, in Strickhosen und mit Bonbons im Mund, und ihr zugesehen, wenn sie die Brille auf der Nase zurechtschob, die Augenbrauen hob und zum Opa sagte: "Ach Ernst, hör mal, weißt du, wer auch gestorben ist?"
Im Alter ist das für die Menschen wohl wichtig, vielleicht auch, weil sie zuweilen den Gedanken hegen, wann sie selber von dieser Welt gehen müssen. Woher kommt eigentlich der Drang der Menschen, einen Tod in der Zeitung zu publizieren? Um Leuten von meinem Tod zu erzählen, die sich sowieso nicht dafür interessieren? Denn wer mich kennt... wirds auch ohne Zeitung wissen, oder? Ich selbst würde sie nicht wollen, so eine Anzeige, vielleicht sogar noch mit so einem Standardtext und Standardrose.

Heute Abend, im Chat mit einem Bekannten, da fiel mir ein, dass vor fast genau vier Jahren ein Mensch ums Leben gekommen war, den ich gar nicht lange kannte - aber dessen Tod mir bis heute weh tut.

"Und auf einmal war es still."
Diese Zeilen aus der Traueranzeige seiner Eltern berührt mich bis heute, wenn ich sie lese, eingerahmt zusammen mit seinem Foto. Ich kannte diesen Menschen ein gutes halbes Jahr. Habe mit ihm zusammen gearbeitet, mit ihm gelacht, gescherzt und meist war er schneller, wenn es darum ging, wer den letzten Kaffee bekam. Dann stand er in meiner Bürotür, schwenkte seine Tasse und grinste schelmisch: „Tja Helma, jetzt musst du wohl neuen Kaffee kochen.“ Es war ein Freitagabend, die Studentin hatte ihr Praktikum beendet und als Dankeschön für uns einen riesigen Schokoladenkuchen gebacken. Der Kuchen war – zugegeben – etwas trocken und wir haben zu dritt herumgeblödelt, uns um die letzten Stückchen gebalgt und obwohl es schon achtzehn Uhr war – quasi Wochenende – saßen wir in der Büroküche, es war sogar fast gemütlich und ich drückte ihm noch die letzten Unterlagen in die Hand: „So, hier hast du jetzt alles zusammen für Morgen früh, jetzt kann die Abnahme kommen.“
Der folgende Samstagmorgen… Ich erwachte, weil es so unglaublich regnete, ein Prasseln, ein Strömen, ein Rauschen, ein Weltuntergang. Und ich schloss die Augen, drehte mich auf die andere Seite und dachte noch: „Bin ich froh, dass ich jetzt nicht raus muss.“
Sechs Stunden später erfuhr ich am Telefon, dass mein Kollege auf der Baustelle nie angekommen war. Aquaplaning. Ich habe das ganze Wochenende lang geweint. Ich konnte es einfach nicht fassen. Ein Mensch, mit dem du gerade noch zusammen gesessen hast, herumgealbert hast, dessen Stimme du noch im Ohr hast – der ist auf einmal nicht mehr da. Der ist nie mehr da. Kennt Ihr auch diese Verbundenheit mit einem Menschen, kaum dass du ihm begegnet bist, und die aber auch absolut nichts Sexuelles hat? Die einfach nur rein, aber unglaublich tief ist? Zwei Jahre lang habe ich es nicht fertiggebracht, weisungsgemäß sein Foto in unserem Büro aufzuhängen. Ich konnte es nicht, ohne dass mir die Tränen in die Augen stiegen.
Auf der Beerdigung bin ich damals nicht gewesen. Sondern zwei Wochen später hingegangen, um mich ganz allein von ihm zu verabschieden. Und da stand ich vor seinem Grab, in das Gesteck kleine Schokoladen gebunden, weil Schokolade einfach seine Erkennungsmarke war. In Gedanken sprach ich mit ihm: „Warum warum warum? Wieso nur hast du dich nicht angeschnallt?“ Es tat so weh, von innen und von außen. Und auf einmal bemerkte ich sie, die Haselmaus. Sie saß direkt neben meinem Fuß, wie wenn sie neben mir stünde und schaute mit auf das Grab. Normalerweise habe ich eine Heidenangst vor Mäusen. Vor dieser… nicht. Sie blieb die ganze Zeit. Bis ich ging.
Ich bin seitdem nie wieder auch nur einen Meter Auto gefahren, ohne mich anzuschnallen. Ich bin insbesondere seitdem jedem Tag dankbar, an dem etwas Wunderschönes geschieht.
Ich bin froh und dankbar, dass es Menschen in meinem Leben gibt, denen ich sagen kann:
"Ich liebe dich. Ich freu mich auf dich. Ich bin so froh, dass es euch gibt."
Und ich werde dessen auch nicht müde. Viel zu vieles ist selbstverständlich im Leben. Viel zu oft steht anderes, steht Negatives im Fokus, obwohl es so viel Schönes gibt, und für das, was wichtig ist, nehmen wir uns zu wenig Zeit, weil wir glauben, es ist ja da... Genieß jetzt mit mir, was wir haben. Freu dich jetzt mit mir. Lach und weine jetzt mit mir. Teile jetzt dein Leben mit mir.
Blumen auf dem Grab brauch ich nicht - denn dann seh ich sie nicht mehr.

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