Mittwoch, 29. März 2017

"Das Leben ist zu kurz für Knäckebrot."



Der Mann, den du liebst, verlässt dich eines Tages. Warum, das weißt du vielleicht oder weißt es auch nicht so genau, aber das einzige, worin du dir völlig sicher bist: Es liegt an dir. Es kann nur an dir gelegen haben. Dass du nicht genügt hast, dass du einfach nicht die Eine warst und es im Grunde auch nie sein konntest.
Also kehrst du nach Hause zurück und irgendwann fängst du neu an, lernst jemanden kennen und obwohl du dir nicht sicher bist, wagst du den Sprung und ziehst bereits nach kurzer Zeit mit diesem neuen Mann zusammen.
"Ich will es richtig oder gar nicht", begründest du. "Das Leben ist so, was soll da noch kommen?" fügst du hinzu und zuckst die Schultern.
Du versuchst, dich in deinem neuen Leben zurechtzufinden, einzurichten, und weil die Ablehnung nicht nur von deinem Mann, sondern auch öfter in verschiedenen Jobs kommt, zweifelst du immer mehr an dir und glaubst deinem Mann, wenn er dich beschimpft, verflucht und irgendwann auch zuschlägt. Du glaubst, dass er recht hat, auch wenn du dich zugleich dagegen wehrst.
"Oh Gott, er hat recht, du bist so hässlich", denkst du, wenn du morgens in den Spiegel schaust und an seine Worte denkst: "Dich will sowieso keiner, du fette Sau", und du weißt genau, es spielt gar keine Rolle, ob du gerade dabei bist, in Kleidergröße 34 abzurutschen oder eine 44 trägst. Es spielt einfach keine Rolle.
Du bist ein liebevoller Mensch, der das, was er tut, auch gern tun möchte. Der gerne Überraschungen bereitet und es seinen Liebsten einfach nur schön machen möchte. Aber du kannst nicht verhindern, dass das, was er dir ständig sagt und was er tut, an dir nagt, dich immer kleiner, wertloser, unbedeutender fühlen lässt und sich deine Mundwinkel mit jedem weiteren Jahr immer mehr nach unten neigen.
Du glaubst, dass das gemeinsame Kind etwas in ihm verändern könnte, und du glaubst, dass du es mit diesem Kind auch schaffst, dich zu beweisen, am meisten vor ihm. Vermutlich weißt du noch nicht, dass es egal ist, was du tust und wie viel du tust. Vermutlich ist das Problem, dass er sich dir unterlegen fühlt. Und während er bemüht ist, dich weit unter ihn zu stellen, zeigst du ihm nicht nur, sondern sagst ihm auch, dass er einfach nichts kann, weder im Haushalt noch im Umgang mit dem Kind.
Wenn er sich nachts auf dich rollt, schließt du die Augen und denkst, dass du gerade eigentlich und am liebsten ganz woanders wärst - und sowieso auch mit jemandem anderen. Es ist egal wer, Hauptsache einer, der viel mehr Liebe in Dein Leben bringt. Du träumst von einem anderen Leben, einem einfacheren Leben, in dem du nicht schon zu Beginn des Monats weißt, dass dein Geld nicht reichen wird für dich und das Kind, du den zweiten Job machst, während du in deinem Kopf noch seine Worte hörst, ob du nicht endlich mal den Arsch hochkriegen willst.
Ihr lebt gemeinsam in einem Haus und noch ist dir nicht bewusst, dass du bereits jetzt schon genau das lebst, wovor du im Grunde am meisten Angst hast: allein zu sein. Zu glauben, dass du es allein nicht schaffen wirst. Du weißt noch nicht, dass du es bereits all die Jahre schon allein geschafft hast.
Niemand kann verstehen, warum du bleibst, warum du nicht gehst, warum du nicht springst.
Niemand kann verstehen, dass du erst in dir selbst den Punkt erreichen musst, an dem du sagst: "JETZT ist es genug."
"Dabei ist es schon jetzt genug", sagst du leise, aber was noch in Kopf und Bauch arbeitet, reicht noch nicht aus, den Sprung zu wagen.
Eigentlich möchtest du ganz anders leben, du möchtest Kirschen aus Nachbars Garten klauen und mit Graffiti "Ich wünsche mir für die ganze Welt Frieden" an Häuserwände schreiben.
Du möchtest Cocktails trinken und die Seele baumeln lassen können.
Du möchtest im Regen tanzen, barfuß durch die Pfützen springen und fühlen, wie sehr und wie gerne du lebst.
Aber eigentlich bist du die ganze Zeit immer nur müde und während du bedauerst, dass ein weiterer Tag herum ist, bist du zugleich auch wieder froh, wenn es ein Tag war, an dem man dich in Ruhe gelassen hat.
Und während du nicht verhütest und er bereit ist, dir ein weiteres Kind zu machen, fragt er dich, wie du dir das alles eigentlich vorstellst und wie du das eigentlich alles schaffen willst.
"Ich hab mir schon immer zwei Kinder gewünscht. Eigentlich wollte ich immer vier Kinder."
"Ich auch. Aber ich habe R. zu spät kennen gelernt. Mit ihm hätte ich mir alles vorstellen können, mit dem anderen nicht."

Fassungslos rühre ich in meinem Milchkaffee.

Dienstag, 28. März 2017

Die Affäre

Meine Finger sind schon seit einigen Tagen wieder befreit von den Tapes, der Hausarzt ratlos ob der Blutwerte, das Rezept ist eingelöst und hat bislang zumindest erreicht, dass ich Stifte nicht nur halten, sondern auch wieder schreiben kann. Zwar benötige ich für diesen Blog keinen Stift, aber... ach egal.

Aufmerksam geworden durch diesen Post von Anna haben der Mann und ich (mehr ich als er) jedenfalls die letzten Abende der nicht ausgelebten Fingerfertigkeiten genutzt, uns auf das Sofa zu lümmeln und zwischen Kräckern und Weißwein eine Folge nach der anderen aus "The Affair" reinzuziehen.


In den bisherigen 3 Staffeln wird die Geschichte eines vierfachen Familienvaters erzählt, hauptberuflich Lehrer, nebenbei seit Jahren versuchter Schriftsteller, der nie richtig Erfolg hat - bis er im Familienurlaub einer junge Frau begegnet, ebenfalls verheiratet, deren einziges Kind beim Baden ertrank. Mit der er eine Affäre beginnt (okay, da sind sie sich beide nicht einig, wer hier wen verführt hatte) und die ihn damit zu einem Buch mit fiktivem Ende inspiriert, das - natürlich - irgendwann zu einem Bestseller wird.
Ihre Geschichte, anfangs erzählt aus jeweils ihrer und aus seiner Sicht mit kurzen Einblendungen des Verhörs auf dem Polizeipräsidium, erschien zunächst gewöhnungsbedürftig, später jedoch interessanter, weil man einfach wissen wollte, worum es konkret eigentlich ging und wer nun der Mörder war. Und weil man alles irgendwie nachvollziehen konnte.
Es war der Mann, der bereits während der 1. Staffel gähnte: "Das ist mir zu langweilig" und zu Bett ging, während ich ganz gespannt bis in die Nacht hinein schaute. Die Psychologie eines Menschen interessiert mich, reizt mich, fasziniert mich - oder stößt mich auch ab.
Gleichwohl will ich verstehen, ergründen: Warum macht der Mensch, was er macht, was bringt ihn dazu, und wie viel Untiefe steckt in jedem von uns?

Dass mit Beginn der zweiten Staffel die Erzählepisoden nicht mehr nur aus den Augen der beiden Protagonisten, sondern nunmehr auch aus dem Blickwinkel der jeweils betrogenen Ehepartner dargestellt wurden, empfand ich zunächst als interessant, späterhin jedoch als anstrengend. Inmitten der zweiten und auch inmitten der dritten Staffel ermüdete schließlich auch ich.
Der Fall war gelöst, ein Unschuldiger ging aus Gründen freiwillig in das Gefängnis und ab diesem Moment, wo man denkt, es ist alles vorbei, die Geschichte ist auserzählt, beginnen Nebengeschichten, beginnen neue Geschichten, die im Hinblick auf die eigentliche Story einige elementare Fragen entstehen lassen. Empfanden wir alles immer verworrener, die Figuren immer skurriler und immer weniger nachvollziehbar.

Durch die dritte Staffel habe ich mich insofern eher gequält und verzichte damit auch auf das Schauen der 4., die irgendwann ausgestrahlt werden soll.
Manchmal sind Geschichten einfach auserzählt und dann sollte man es dabei auch belassen, bevor es dröge wird. Sowohl in der Fiktion als auch in der Realität.

Montag, 27. März 2017

Kategorie: Webfundstücke




Ich glaube, ich bin inzwischen eine Meisterin des Verdrängens. Nicht gut, weiß ich. Eigentlich. Manchmal aber hilft mir das zu überleben, und so habe ich diese Eigenschaft (oder Eigenart?) in den letzten Jahren immer weiter vervollkommnet. Nicht bei jeder ersten Begrüßung und nicht bei jedem letzten Abschied habe ich immer gesagt oder gezeigt, was ich denke, was ich fühle, wie ich mich fühle.
Selbstschutz, ach das interessiert mich hierbei nicht. Mich interessiert nicht, ob ich mich angreifbar, verletzlich mache mit dem, was ich denke und fühle. Aber manchmal... ich weiß nicht.. manchmal ist das, was ich fühle und was ich denke, wie ein kostbarer Schatz, den ich nicht hergeben möchte. Nicht in einem Augenblick, wo ich den anderen Menschen noch nicht kenne, und auch nicht in einem Augenblick, in dem ich loslasse. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass man zuweilen auch jemanden schützen kann, indem man gar nicht alles sagt, was man denkt.
Und dann gehe ich meiner Wege und nehme all das mit. Sortiere. Nehme das Positive mit und hole es für mich hervor in Augenblicken, die ich mit mir allein sein möchte. Hole es hervor, betrachte es und dann fühle ich mich besser.

Als ich heute Abend dieses Bildchen fand, musste ich lächeln und dachte, hach ja, das bin sowas von ich... Die Musik und ich, ich und die Musik. Die Kopfhörer aufsetzen, den Kopf ausschalten, die Augen schließen und mich zurücklegen. Die Arme hinter dem Kopf verschränken und die Beine an die Wand lehnen. Die Welt ausblenden, alles ausblenden, und obwohl gerade vieles noch nicht so ist wie es sein sollte, ist es wieder da, dieses Spielfigurengefühl, die du nach allen Seiten anstoßen kannst und sie pendeln und kehren dennoch immer wieder in ihre eigene Mitte zurück...

Quelle: https://www.facebook.com/GrossesMKleeneElli/?hc_ref=NEWSFEED&fref=nf




Freitag, 17. März 2017

Aus is


"Aus is" stand vor einer Woche an der Tür unseres Lieblingsbäckers hier im Nachbarhaus. Wir haben den Abschied ehrlich bedauert, wo findet man heutzutage schon noch einen Bäcker, der die Leute der Nachbarschaft vernetzt und sich so zu einer Art "Kiezbäcker" etabliert?
Dieser Hauch von... ja ich weiß jetzt auch nicht, wie man das nennt... wo nicht der Gedanke an den erzielten Gewinn dominiert, sondern einfach.. das Miteinander.
Natürlich sind auch die Einnahmen wichtig, so blauäugig bin ich ja nun auch nicht. Deshalb habe ich ihm auch immer Trinkgeld dagelassen, auch wenn er ohnehin schon nicht grad günstig war. Einen "Kiezbäcker" will man einfach nicht hergeben, so wie auch einen guten Friseur oder Gynäkologen nicht. Manche guten Dinge sind einfach essentiell im Leben einer Frau ;)

Aus is auch für den Moment mit dem Schreiben bei mir - siehe Foto. Nach 12 Jahren Dauerschmerz habe ich mich an diesen gewöhnt, nur die intensiven Schübe machen mir manchmal doch zu schaffen. Dachte ich noch im Dezember, es würde an der eisigen Kälte liegen, haben die mittlerweile gefühlten 17 oder 20 Grad mich dahingehend belehrt: Ne, daran allein liegts nicht.
Nicht nur, dass es nicht besser werden will - momentan sind neben den üblichen Gelenken vor allem auch die Finger betroffen und, was neu ist, die Finger beider Hände. Nicht mehr nur links.
Vor ein paar Jahren habe ich noch gesagt: "Wenns irgendwann auf rechts übergeht und dann alles weh tut, dann will ich nicht mehr sein."
Aber nu ja. Das sagt sich alles "leicht". Natürlich denke ich nicht dran. Aber es ist.. nicht so einfach im Moment - und nun mit zwei verklebten Händen und der Mahnung: "Finger ruhen lassen" auch nicht grad besser. Wenigstens aber will ich mir selber nicht vorwerfen müssen, dass ich nicht alles mögliche versucht hätte.
"Alle Finger kann ich aber auch nicht abkleben", hieß es heute - also haben wir uns nur auf die schmerzhaftesten beschränkt. Links zwei, rechts zwei.
Die junge Apothekerin heute Abend hat mich alles mögliche ausgefragt und dann gemeint, sie wolle mich nicht verrückt machen mit ihren Gedanken an mögliche Ursachen.
Ich habe müde gelächelt: "Glauben Sie mir, in zwölf Jahren denkt man so vieles, da schockt mich, ehrlich gesagt, nichts mehr."

Und weil ich die Finger jetzt erst mal schonen soll, ziehe ich mich nun wieder in die "Wortlosigkeit" zurück und harre der guten Dinge, die da hoffentlich kommen werden. Es gibt ja auch ohne diesen Scheiß grad genug zu bewältigen.

Sonntag, 12. März 2017

Girl Sitting On A Rock

Bildquelle: https://www.splitshire.com/girl-sitting-rock/

Die Herzleistung liegt bei 15 Prozent.
Der Sauerstoffgehalt im Blut liegt bei 50 Prozent.
Es bedarf dringend einer neuen Herzklappe, denn die alte schafft es nicht mehr.
Und das Herz schafft es nicht mehr, das Blut aus der Herzkammer herauszupumpen. Warten auf den nächsten freien Platz im Herzzentrum.
"Natürlich mach ich mir Gedanken, aber ich versuch nach vorne zu schauen", sagt die Mama tapfer.

Das Foto heute mit Pulli, Jeans und Socken des Jungen - deutlich blutverschmiert: "Bekommt man das wieder raus?"
Mir rutscht das Herz sonstwohin. Ja, da ist jemand auf den anderen losgegangen, doch mein Junge ist unversehrt, er hat davon auch nichts mitbekommen, aber seinen Freund gefunden und die Polizei gerufen.
Aufatmen zunächst, auch wenn ich Anteil nehme an dem, was seinem Freund passiert ist und der nun im Klinikum liegt mit Kieferbruch.

All das Negative der letzten Tage, Wochen, Monate, das ich sowieso nicht beeinflussen kann, schiebe ich heute Nachmittag von mir weg. Okay, ich versuche es. Ich lerne zu akzeptieren, Menschen, Meinungen, Ansichten, auch wenn ich mich wundere oder es mich tief verletzt. Irgendwie nimmt man aus allem etwas mit, auch aus diesem Negativen: Ich lerne für mich selbst.
Laufe nicht mehr gegen Mauern und versuche auch keine Argumente mehr zu hinterfragen, die auf fragwürdigem Boden stehen. Erinnere mich wieder, warum es mir immer so schwer fiel, überhaupt um Hilfe zu bitten oder diese anzunehmen. Dann doch es lieber immer aus eigener Kraft schaffen oder eben auch nicht, dann versucht man es eben anders.

Ziehe mich zurück, vergrabe mich in der Musik und lasse kaum noch etwas an mich heran.
Beschäftige mich mit mir, meinen Gedanken, die um den Vater, die um die Söhne, die um mein Leben - und frage mich, ob das, was ich derzeit tue, das ist, was ich überhaupt immer wollte.
Ob ich nicht doch lieber etwas Soziales hätte machen sollen. Ein starker Mensch kann und wird immer für sich selbst eintreten können. Ein schwacher kann das nicht immer, nicht immer aus eigener Kraft - und ist deswegen trotzdem "nicht weniger wert" als andere. Und vielleicht hätte das einfach besser zu mir gepasst. Um einfach auch wieder zu erfahren, wofür man sich einsetzt, für wen man es tut und dass Hilfe und Unterstützung auch da ankommen, wo es wirklich gebraucht wird.




Donnerstag, 9. März 2017

Es recht zu machen jedermann



...ist eine Kunst, die niemand kann.
Ich habs auch nie versucht, glaube ich, jedenfalls nicht bewusst. Früher vielleicht. Als ich noch anders war und glaubte, ich könnte nur dann geliebt werden, wenn ich ausreichend dafür getan hätte.
Früher wollte ich vor allem glücklich machen, heute will ich selber aber auch glücklich sein.
Damit erhebe ich nicht irgendwelche Ansprüche an das Leben, das Umfeld und die Menschen, die ich liebe. Vor allem tu ich selber etwas dafür. Es ist nur... irgendwie... ich weiß nicht, wie ich es nennen soll... Es ist irgendwie sonderbar, dass Menschen in meinem Umfeld nicht sehen, was sie bekommen, sie dafür aber sehr wohl sehen, was sie nicht haben.

So kommt es, dass man sich an whatsapp-Nachrichten hochzieht, die nur zum Teil von mir beantwortet worden waren. Und trete ich nach einer schlaflosen Nacht in der Firma durch die Tür, werde ich zum persönlichen Gespräch gebeten, in dem mir serviert wird, dass ich wie alle anderen nur an mich denke, nur auf meinen eigenen Vorteil bedacht bin, dass ich verantwortungslos sei und jeden in der Firma mit meiner miesen Stimmung herunterziehen würde. Dass ich ja mit niemandem mehr sprechen würde - und dass ich bitte rechtzeitig bekannt geben möge, wenn ich vorhätte, die Kündigung einzureichen - damit man zeitig genug wisse, worauf man sich einstellen müsse.
Nun ja. Miese Stimmung also. Wenn eines richtig ist, dann das, dass ich derzeit nicht ausgelassen und fröhlich durch die Räume springe. Ich glaube auch nicht, dass ich das muss. Nicht nur nicht, weil es nicht in meinem Arbeitsvertrag verankert ist. Sondern auch, weil mir mein reales Leben gerade ganz gehörig um die Ohren fliegt, der Schmerzschub einfach kein Ende nehmen will, der eine Sohn die Kündigung erhalten hat und der andere an einer Prüfung scheiterte, die er nun in vierzehn Tagen wiederholen muss, der Vater mit Blaulicht in die Klinik gebracht wurde und die Mama am Telefon mit den Tränen kämpft, während mir diese sofort aus den Augen springen.

"Du hast ganz schön abgenommen, stimmts?" fragt heute eine Kollegin. "Und du denkst, du kannst weite Klamotten anziehen und das damit verbergen."

Ich weiß nicht, ob ich die paar Kilos weniger verbergen wollte. Aber wenn ich eines nicht zeigen möchte, dann das, wie es mir tatsächlich gerade geht oder wie ich mich fühle. Ich wüsste auch nicht, wozu das gut sein sollte. Nicht nur, weil mich sowieso niemand danach fragt und sich auch niemand dafür interessiert.
Mir ist das Home Office-Modell angeboten worden, als ich im Januar 2014 meinem Chef sagte, dass ich die Kündigung zum 1. September einreichen würde - und ihm ganz weit über meine Kündigungsfrist hinaus damit Gelegenheit gab, Ersatz für mich zu finden. Den er nicht wollte - und mir daraufhin eben dieses Modell anbot. Mit zweimal zwei Tagen Anwesenheit je Monat vor Ort. Dass mir das mittlerweile regelmäßig vorgehalten würde, habe ich nie erwartet.
"Ich habe dir den Weg nach M geebnet."
"Moment. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich die Kündigung einreichen wollen, da war an Home Office überhaupt nicht zu denken. Ich wäre also in jedem Fall gegangen, so oder so."
"Es richtet sich auch immer nach dir, wann du herkommst, zum Beispiel wegen dem Geburtstag deines Sohnes."
Er hat einmal im Jahr Geburtstag, ich wusste nicht, dass das ein Problem ist. Okay, ich habe zwei Söhne - also zweimal im Jahr äußere ich diese Bitte. Habe ich aber im Gegenzug je beklagt, wie oft ich an Wochenenden und auch Feiertagen unterwegs war, nur weil es nicht anders in den Kalender des Chefs passte?
"Du ziehst jeden runter mit deiner schlechten Laune."
Wie gesagt. Ich springe derzeit nicht fröhlich durch die Räume, aber niemandem gegenüber vergreife ich mich in Ton oder Wort, bin da, höre zu, versuche zu lösen, zu regeln, lächle, bin höflich, freundlich - ich rede nur nicht über meine Sorgen und Probleme und nach herzhaftem Lachen ist mir gerade nicht wirklich. Wenn das schlechte Laune ist, dann möchte ich mal wissen, was echte schlechte Laune ist. Wobei - nein, das weiß ich doch, ich bekomm es ja oft genug zu spüren. Beruflich wie privat.

Manchmal denke ich, ich zerreiße mich ständig zwischen den Welten in L und M und meiner Liebe und Verantwortung für die Söhne - und finde dabei interessant, dass sich mein Umfeld beklagt, nicht ich mich.
Über mein Auftreten in der Firma.
Über zum Beispiel die nur halb beantwortete whatsapp-Nachricht.
Ich undankbare, egoistische, schlecht gelaunte Zumutung. Ich sollte wirklich dankbar sein, wenn man es mit so jemandem wie mir länger als drei Tage aushalten will.
Ihr könnt mich alle mal, aber sowas von.

Darauf trinke ich gleich auch einen. Aber erst rufe ich meinen Vater an, um zu hören, wie es ihm geht.

P. S. Ja ich weiß, mein Blog las sich mal wesentlich entspannter und fröhlicher. Kann ich jetzt aber auch nix für. Man muss ihn ja nicht lesen.


Dienstag, 7. März 2017

Polizeiruf 110


Ich war müde gestern Morgen, als ich mich auf den Weg machte. Im Grunde fahr ich gerne Auto, sehr gern sogar. Es gibt kaum einen anderen Ort, an dem ich so mit mir selber bin wie da. Nur die Musik und ich. Na ja und all die anderen Autofahrer. Da kann man schon mal einem Herzinfarkt erliegen, wenn urplötzlich vor dir jemand die Spur wechselt - ohne Blinken, versteht sich.
Oder man selber mit 180, 190 kmh in der dritten Spur unterwegs ist, vor dir jemand, neben dir jemand und trotzdem kommt da jemand angekachelt und will dich mittels Lichthupe und dichtem Auffahren am liebsten von der Straße schubsen. Da frage ich mich auch manchmal: Sehen die nicht, dass die Straße nicht frei ist - weder vor mir noch neben mir?
Es hat auch schon jemanden gegeben, der mich mehrmals fotografierte, weil ich erst von links nach rechts, dann eine Weile geradeaus und dann doch wieder nach links fuhr - und er offenbar der Meinung war, ich hätte ihn rechts überholt. Er hielt sich daraufhin hartnäckig und recht nah an meinem Heck, vermutlich nur, um zu demonstrieren, dass er mich jetzt mindestens fünfmal fotografiert hatte. Na gut, nicht mich. Mein Auto. Beeindruckt hat er mich damit nicht. Fahrspuren sind dazu da, dass man sie auch wechselt, anstatt sich notorisch links zu halten.

Gestern Morgen nun war ich müde, die Autobahnen voll und ich etwas angespannt. Der anhaltende Schneeregen tat sein übriges, spätestens beim Aquaplaning war ich hellwach.
Drei Stunden später, drei Spuren, die Geschwindigkeit freigegeben, ich links, der Tacho zeigte knapp über 180 kmh. Es hatte aufgehört zu regnen, das Thermometer zeigte fünf Grad (und ich noch im Frühlingsmodus nach den wunderbar milden Temperaturen vom Wochenende) und dann sah ich ihn. Den alten Mann.
Er stand da, an der Mittelleitplanke, nicht dahinter, sondern davor, mitten an der Fahrbahn. Nur eben... in der Mitte. Links. Nicht am rechten Rand. Er stand da in seinem rostroten Pullover, ohne Jacke, das graue Haar wirr und in der Hand hielt er eine zusammengeknüllte weiße Plastiktüte, die augenscheinlich leer war.
Nur ein Schritt noch hat gefehlt.
Und dann war ich schon vorbei.
Griff mit zitternden Händen nach dem Telefon und wählte die 110. Spätestens in diesem Moment war ich dankbar für kurze knappe Notrufnummern, die einem von Kindesbeinen an in Fleisch und Blut übergegangen sind.

Noch am Abend haben mir die Hände gezittert und habe ich das Internet rauf und runter gesucht in der Hoffnung, einen Hinweis zu finden, dass man den alten Herrn rechtzeitig und wohlbehalten von der Fahrbahn geholt hatte. Weil ich nichts fand außer den Hinweis, dass man an der entsprechenden Stelle zur entsprechenden Uhrzeit "alle Fahrbahnen geräumt" hätte, gehe ich davon aus, dass man den alten Herrn heil in Sicherheit gebracht hatte.
Wie kam er überhaupt da hin? Was machte er dort? Es sind keine Ortschaften dort in der Nähe.
Wie hatte er es überhaupt "heil" bis in die Mitte gebracht - und wo wollte er überhaupt hin?
Und ich habe darüber nachgedacht, warum mich das so nachhaltig geschockt hatte. Wo doch alles gut gegangen war. Auch wenn nur noch ein Schritt gefehlt hatte. Ein einziger Schritt. Ein knapper Meter, der darüber entscheidet, ob ein Leben jetzt und hier endet..

Jetzt mit ein paar Stunden Abstand denke ich, mein Schockzustand hing wohl eher mit jener  Nacht vor Jahren zusammen, als ich schon einmal mit zitternden Händen die 110 wählte. Pandoras Box hatte sich wieder geöffnet, doch mit zwei kleinen Reststücken des halb vertrockneten Geburtstagskuchens konnte ich sie gestern Abend dann auch wieder schließen.

Ich sollte öfter etwas Schokoladenkuchen im Haus haben.

Freitag, 3. März 2017

Wenn der Topf aber nun ein Loch hat

...lieber Heinrich, was dann?

Bildquelle: http://ooshadowangeloo.over-blog.de/pages/Gedichte_Gedanken_Zitate_und_Inspirationen-5971828.html

Gestern las ich bei Anna über das Perpetuum Mobile. Und meint in ihrem Sinne nicht die physikalischen Eigenschaften eines Geräts, sondern die ähnlich gearteten Eigenschaften einer/s Alleinerziehenden. Und sie hat Fragen gestellt. Fragen, die ich für mich auch beantworten kann, selbst wenn ich seit 2 1/2 Jahren nicht mehr mit meinen Söhnen zusammen wohne.
Vielleicht, weil ich mich manchmal bzw. aktuell immer noch so fühle, vielleicht aber auch, weil mir diese Zeit noch wesentlich näher ist als der Kalender das wiedergibt.

was motiviert euch?
Der Gedanke, dass nicht alles Lernen und Kämpfen für umsonst gewesen sein soll. Dass ich den Traum von einem guten, schönen Leben für meine Kinder und mich habe - und diesen auch umsetzen, leben möchte. Und weil sich das nicht von allein so ergibt, muss ich auch etwas dafür tun. Ich glaub, das habe ich auch immer.

woher holt ihr euch energie?
Aus der Musik. Kann ich nur immer und immer wieder sagen. Und aus schönen Dingen, mit denen ich mich umgebe. Aber auch aus "innerlich schönen" Menschen, aus denen, die mir gut tun.
Mehr und mehr habe ich gelernt, mich von Dingen und Menschen zu trennen, die meine Energie zerfressen oder bei denen ich das Gefühl habe, benutzt zu werden.
Schlussstriche zieht man halt nicht mit dem Bleistift.

wann hat euch das letzte mal jemand umarmt?
Das glaubt mir vermutlich kein Mensch, aber das passiert mir wirklich eher selten. Wenn ich das von mir aus nicht mache, ist das tatsächlich sehr selten. Also jetzt mal von Begrüßungsgedöns abgesehen. Jemand hat vor Jahren mal zu mir gesagt "Du umarmst mich immer so herzlich, ich kenne das gar nicht." Aber ich gebe zu, ich bin sehr sparsam damit geworden.
Von sich aus umarmt mich am meisten mein Jüngster. Das hat er schon als Kind sehr gerne gemacht und macht er auch heute noch. Ich glaub, der mag mich wirklich ;)

oder gelobt?
Auch das wird mir jetzt keiner glauben, aber das kommt ebenso selten vor. Im Allgemeinen ist das aber auch kein Problem für mich. Ich kann mit Lob bzw. Komplimenten eh nicht gut umgehen. Die positiven glaube ich sowieso nicht, und wenn ich das Gefühl hab, ein Kompliment ist ernst gemeint, dann albere ich herum und lenke von der Situation und damit von mir ab.
Vielleicht liegt das auch an meiner nordischen Mentalität, wir aus dem Norden haben das schon von Haus aus nicht so damit.

euch bestätigung in eurem tun gegeben?
Bestätigung... Die bekomme ich eher in den Gesprächen mit der Therapeutin meines Jungen, die auch mal meine war. Wenn sie mir sagt, dass ich tatsächlich nicht alles komplett falsch gemacht habe oder alles komplett falsch sehe, wie mir das gerne von einigen in meinem Umfeld beigebracht wird.
"Lassen Sie sich nicht verunsichern, niemand steckt in Ihrem Leben", hat sie noch im Dezember zu mir gesagt.

wer oder was gibt euch energie, die nicht aus euch selbst kommt?
und:
seid ihr auch manchmal so müde, wie ich es bin?
Bislang schaffe ich es immer noch, mich selber zu motivieren, auch wenn ich nach einem (erneuten) Tritt in die Kniekehlen immer mal durchhänge. Und mit der Motivation kommt dann auch die Energie, denn siehe eingangs: Von allein kommt gar nichts, geschenkt bekommt man nichts (und wenn doch, wirds einem viel zu oft vorgerechnet; da kann mans dann auch lassen).
Müde? Oh ja! Besonders deutlich zu sehen auf vielen meiner früheren Fotos. Da sehe ich so unfassbar müde aus, als hätte ich mein eigentlich erklärtes Ziel, 104 Jahre alt werden zu wollen, schon erreicht.


Ich bin auch kein Perpetuum Mobile. Aber ich hab nach dem Beantworten der Fragen irgendwie das Gefühl, als würde ich ständig aus meinem Topf der Zuversicht, des Optimismus' und der Lebensfreude schöpfen und zugleich aber zu wenig darauf achten, dass dieser Topf auch gut gefüllt bleibt. Dann müsste ich mich eigentlich auch nicht wundern, wenn dieser mal leer ist und erschöpft.
Danke Anna, dass Du mich hier auf was ganz Elementares aufmerksam gemacht hast.

Donnerstag, 2. März 2017

Eine Nummer zu groß - Deogarh, Tag 12








In Indien kann man sich daran gewöhnen, dass man für eine Strecke von rund 120 Kilometern mindestens zwei Stunden mit einem Auto unterwegs ist. Gemessen an den vergangenen Tagen, an denen wir auch mal vier oder sechs Stunden unterwegs sind, finde ich das einen Klacks.
Aber ich beginne zu verstehen, warum der eine oder andere Inder davon träumt, mal in Europa über Autobahnen ohne Geschwindigkeitsbegrenzungen düsen zu dürfen.

In einer ehemaligen Palastanlage eines Maharadschas, dem Deogarh Mahal, beziehen wir ein Zimmer, das mir spontan gut gefällt. Herrn Blau weniger, und ich glaube, er ist fast erleichtert, dass die dortige Klimaanlage keine kalte Luft, dafür aber ein ungutes elektrisches Zischen und einen verdächtigen Geruch nach Kabelbrand von sich gibt. Was für uns bedeutet: umziehen in ein anderes Gemach. Ich schreibe bewusst "Gemach", denn was sie uns als Entschädigung anbieten, ist das ehemalige Schlafzimmer jenes Maharadschas. Und mir ist das viel zu groß. Ich fühle mich darin absolut verloren und mit diesen komischen kleinen Viechern, die laufen wie Echsen, aber Flügel haben und entsprechend durch die Luft flattern, erst recht nicht wohl. Das ist wie Mäuse oder Spinnen im Zimmer haben: Kriege ich raus, das Getier im Zimmer mithockt oder rumflitzt, gebe ich so lange keine Ruhe, bis das vor die Tür gesetzt wurde. Natürlich von Herrn Blau, nicht von mir, das ist ja klar.
Da bin ich ganz Mädchen!
So wie ich auch darauf bestehe, dass in der Nacht ein kleines Lämpchen brennen bleiben muss.
Erstens muss ich doch sehen, ob da noch so ein Tier gerannt oder geflogen kommt - und das kleine Nachtlicht hilft mir, mich nicht mehr ganz so verloren zu fühlen.

An diesem Nachmittag suchen wir uns in der Stadt, die etwa um die 700 Einwohner zählt (was in Indien vermutlich auch unter "Kleindorf" fallen dürfte), lediglich einen Stand mit Obst und Wasser. Melonen oder Pfirsiche oder so was in der Art suche ich allerdings vergeblich. Das Angebot beschränkt sich in mehr oder weniger allen Orten auf Äpfel, Bananen in Hülle und Fülle. Mit Glück kann man mal eine Melone oder eine Ananas oder auch Mandarinen erhaschen, aber wie gesagt: mit Glück.
"Wir verkaufen, was wir gerade ernten können", erklärt uns ein Inder und mich erinnert das an ganz früher, an meine Kindheit in der DDR. An die endlosen Auslagen mit den übergroßen Holzkisten, in denen lose die geernteten Äpfel und Birnen lagen. Und Kohl, Weißkohl. Im Sommer gabs noch Erdbeeren und Kirschen für die, die schnell genug waren und keinen eigenen Garten hatten, das wars dann.
Apfelsinen und Bananen gab es oft nur zu Weihnachten und dann ewig lange Schlangen am Obst- und Gemüsestand und rationierte Zuteilung. Gibt's ja auch genug Witze drüber ;) Tatsächlich aber finde ich schon bemerkenswert, dass wir früher im Osten weitaus weniger mit Allergien zu tun hatten. Weiß grad gar nicht, wie ich auf diese Assoziation komme.
An die frühe Zeit im Osten denke ich auch, wenn ich die Kinder in Indien sehe. Gerade am frühen Abend, als wir uns noch mal auf den Weg machen, eine Tempelanlage zu besuchen, sehen wir sie mit ihren Eltern auf den Feldern, Tomaten pflücken oder gießen oder einfach mit Freunden spielen. Und ich denke daran, wie das früher bei uns war und wie genügsam wir damals waren. Wie wir in der Modder spielten oder Räuber und Gendarm mit abgebrochenen Zweigen. Heute gibst Du Deinen Kindern ein Ersatz-Smartphone, weil das eigentliche in der Reparatur ist - und dann beklagen sie sich noch, weil der Ersatz ein viel zu kleines Display hat und sie "nicht richtig" spielen können :)
Dieses ausgelassene, unbedarfte Herumtoben fehlt mir heutzutage irgendwie im Gegensatz zu den Knirpsen, die noch im Sportwagen sitzen und schon mit Handy oder Tablet spielen und genau wissen, was sie wo drücken müssen. Auch wenn ich es andererseits wiederum gut finde, dass Kinder heutzutage die Möglichkeit haben, mit Computer & Co. aufzuwachsen, sich das verinnerlichen und das für später dann kein Problem mehr ist. Immerhin geht ja in der heutigen digitalen Welt kaum noch was analog.
Aber ich schweife schon wieder ab.

Pause jedenfalls machen wir auf unserem Weg an einem versteckt wirkenden Tempel, äußerlich gar nicht als solcher erkennbar; er wirkt eher wie eine Höhle, die in einen Fels geschlagen wurde. Es ist entsprechend duster darin. Und als der Inder eine Taschenlampe einschaltet, entdecke ich mein persönliches Grauen: die Decke über mir voller Fledermäuse, so weit das Auge reicht.
In meiner Phantasie, die tatsächlich grenzenlos sein kann, wenn sie will, tummeln sich innerhalb von Sekunden mehrere dieser Tierchen auf meiner Haarpracht, die ich an diesem Abend auch nicht zusammengebunden habe. Außerdem darf man jeden Tempel nur barfuß betreten, auch diesen hier - und gibt es für eine Frau ein größeres Grauen als Achtbeiner??
"Sorry, I have to leave!" und da bin ich auch weder umzustimmen noch aufzuhalten.
Mir doch egal, dass irgendwo tiefer drinnen in einer Schlucht noch eine Guru-Schlafstätte zu besichtigen wäre. Was interessiert mich, wo da jemand in die Decken pupst?? Und ganz echt mal: In Indien kann dir im Grunde jeder als Guru angepriesen werden und du als Tourist weißt sowieso nicht, ist das nun ein "echter" oder nicht.
Da warte ich lieber draußen in der Abendsonne, genieße die letzten Sonnenstrahlen - und offenbar sind wir inzwischen weit genug weg von der Wüste: Ist die Sonne weg, wird es spürbar kühler. So kühl, dass wir auf der Rückfahrt im offenen Jeep sogar frösteln. Dafür sehe ich zum ersten Mal in meinem Leben echte Flughunde aus relativer Nähe, die im Schwarm über uns hinwegziehen.
Die machen mir keine Angst - aber die sind auch hoch genug bzw. weit genug weg von mir ;)

Und hier ist auch dieser See, an dem wir auf eine unfassbar ruhige Wasseroberfläche schauen, tatsächlich zuschauen können, wie die Sonne untergeht, während Herr Blau sich Masala-Tee und ich mir meinen obligatorischen Kaffee genehmige, ich Kulturbanause.
Es ist ein so herrlicher Ort der Stille und Ruhe, dass wir stundenlang so da sitzen und einfach nur nichts tun könnten. Nicht reden, dafür schweigen, den eigenen Gedanken nachhängen und spüren, wie auch tief in uns drinnen alles zur Ruhe kommt. Hier denke und fühle ich nichts mehr außer dieser wunderbaren Stille und Ruhe in mir und um mich.
Bis wir mit einem recht jungen Inder ins Gespräch geraten und uns angeregt unterhalten. Einmal mehr stelle ich begeistert fest, dass ich tatsächlich englisch reden kann, wenn ich einmal meine Scheu abgelegt hab. Da kann ich beinah ins Erzählen geraten...
"Ah, you are divorced?" fragt er überrascht nach und während ich nach einer Erklärung suche von wegen viel zu früh geheiratet oder sowas, winkt Herr Blau ab und sagt auf deutsch zu mir: "Das ist hier auch nicht anders."
Des Inders Blicke wechseln zwischen Herrn Blau und mir, eher nur erstaunt und fragend, trotzdem: Irgendwie fühle ich mich mit einem Mal total unwohl und ich schaue weg und sage ebenfalls auf deutsch zu Herrn Blau: "Ich sollte einfach überhaupt nichts über uns erzählen." - "Ja besser ist das."

Not Guilty



Ich war mal mit Herrn Blau auf einer Kirmes. Weißwein gibt es dort nicht, also kann ich es nicht mal auf den Leichtsinn eines Alkoholrausches schieben, als ich zu ihm sagte: "Hey komm, lass uns mal eine Runde mit dem Karussell fahren!"
Vermutlich war es die Erinnerung aus der Kindheit, die mich lockte.
Dieses Gefühl von Leichtigkeit, dass man wie eine Feder über all den Dingen "schwebt"; dieses Gefühl von Ausgelassenheit und Übermut.

Das Karussell begann sich zu drehen und mit jedem Schwung mehr steigerte sich mein Angstgefühl.
Da war nichts mit Leichtigkeit, nichts mit dem Gefühl einer Feder oder gar Ausgelassenheit.
Jedenfalls nicht bei mir. Und um mich "aufzulockern" (vermute ich), gab mir Herr Blau einen Schwung und stieß mich auf voller Fahrt nach außen. Und während sich mein entsetztes "Neeeeeeiiiinnnn!!!" im Getöse der Musik , im Kreischen der Kinder verlor, produzierte mein schockiertes Hirn in Nullkommanichts ein Szenario von reißenden Ketten, so dass ich vermutlich innerhalb der nächsten Sekunden nicht nur Fressbuden, Fahrgeschäfte und den Leierkastenmann, sondern auch mein bisheriges Leben an mir vorüberziehen sehen würde.
Ich habe mich ziemlich lange von diesem Schock nicht erholt, trotz "Wiedergutmachungswaffel" mit Sahnehäubchen.

Anderswo lese ich derzeit, dass so einige Blogger Schwierigkeiten mit dem Jahresbeginn und insbesondere mit dem Februar haben. Der habe es in sich - und möglicherweise braucht es auch nur den richtigen Frühlingsbeginn, um herauszukommen aus dem zähen Brei, der einem an den Füßen klebt und den Kopf verkleistert.
Ich glaube, der Februar ist da ganz unschuldig.
Aber wenn ich gefragt werde, wie ich mich derzeit fühle oder wie sich mein aktuelles Leben derzeit anfühlt, dann könnte ich es kaum besser beschreiben als mit jenem Schockmoment im Karussell.
Das Foto oben übrigens hat Herr Blau aufgenommen, bevor das Karussell sich drehte. Von danach gibt es keins. Ist vielleicht auch besser so.