Montag, 27. Februar 2017

2005 Der eindringlichste von allen



Als sie erwacht, ist es immer noch Nacht. Hat sie gerade geträumt oder warum ist sie erwacht? Und überhaupt, woher kommt dieses Knistern? Sie liegt still in ihrem Bett, rührt sich nicht, lauscht nur. Dieses Knistern. Wie Folienpapier, das zusammen geknüllt wird. Wer um Himmels willen knüllt mitten in der Nacht Folie zusammen? Und überhaupt… Wie kommt dieser Jemand eigentlich in ihr Haus?
Ist da jemand? möchte sie fragen, doch nicht nur ihr Körper ist erstarrt, ebenso auch ihre Stimme. Kein Laut kommt über ihre Lippen. Dann hört sie das Pfeifen. Eine leise Melodie – oder ist es das Radio in der Küche? Wie kommt es, dass mitten in der Nacht ihr Radio zu spielen beginnt? Sie befreit sich von ihrer Decke, steht langsam und sehr zögerlich auf. In ihr ist alles voller Angst. Sie ist allein in diesem Haus. Wenn sie Filme gesehen hat, in denen die Frauen losgingen, obschon das Grauen aus jeder Ecke zu schauen schien, hatte sie immer den Kopf geschüttelt und gesagt: “Kein Mensch geht drauf zu, wenn er Angst hat. Er rennt weg und versteckt sich. Oder stellt sich tot.” Doch jetzt und hier geht sie los. Und sie fühlt sich umso mehr allein, weil sie die Frage, wer ihr jetzt zur Seite stehen könne, nicht zu beantworten weiß.
Licht macht sie keins, sie befürchtet, damit erst auf sich aufmerksam zu machen. Vielleicht weiß man ja gar nicht, dass sie da ist? Sie tappt auf nackten Füßen durch ihr Schlafzimmer, durch ihr Wohnzimmer, betritt den dunklen Korridor. Die Musik ist deutlicher geworden, ja, sie kommt aus der Küche. Und ebenso deutlich ist zu hören, dass jemand zu dieser Melodie pfeift. Leise und sorglos. So als sei es das Natürlichste der Welt, nachts in fremde Häuser einzusteigen und die Musik anzustellen und dabei, so hat es den Anschein, alle möglichen Dinge in Folie einzuwickeln und in Kartons zu packen.
Warum nur, fragt sie sich beklommen, wieso lässt du abends auch immer die Tür zur Terrasse offen stehen? Das muss doch solche Leute anlocken!
Sie schaut vorsichtig in die Küche hinein. Was sind das für Möbel? fragt sie sich verwundert. Wieso nehmen sie mir meine schönen Möbel weg und stellen mir so einen alten Kram dafür rein? Wieso stellen sie mir überhaupt andere Möbel rein? Alte Möbel, wie sie sie noch aus den Zeiten kennt, als sie mit ihrem Ehemann zusammen gelebt hat. Alte Möbel, deren Stil sie immer hasste und sich dennoch nicht durchzusetzen vermochte, dass man etwas schuf, das beiden gefiel. Mit zitternden Händen greift sie zu ihrem Telefon, doch sie kann die Zahlen nicht finden, sie kann die Tasten nicht tippen. Was ist nur los, um Himmels Willen, was ist hier eigentlich los? Endlich kann sie den Polizei-Notruf bedienen, doch am anderen Ende erklingt nur eine Bandansage. „Tut uns leid, dass Sie außerhalb der Sprechzeiten anrufen. Bitte versuchen Sie es später noch einmal.“ Ist die ganze Welt verrückt geworden? Oder… oder nur sie selbst? Seit wann gibt es auf einer Polizeistation eine Bandansage?
Ich bin allein, sagt sie sich und weicht langsam und lautlos zurück, ich bin hier allein in diesem gottverdammten Haus mit irgendeinem wildfremden Menschen und ich hoffe nur, dass dieser Mensch nicht rausfindet, dass ich hier bin. Sie findet zurück in ihr Bett, sie verkriecht sich darin, wickelt die Decke um ihren Körper und sinkt tief in das Kissen hinein.
Das Pfeifen aus der Küche hat aufgehört. Ob er fertig ist und das Haus jetzt verlässt? Ohne sie zu entdecken und ohne ihr etwas anzutun?
Sie schreckt auf, als sie den Schatten vor ihrem Fenster sieht. Ganz starr und still ist sie, wagt keine Regung und als dieser Schatten sich von ihrem Fenster fortbewegt, fällt ihr Blick auf seine Schuhe. Das ist doch… Das sind doch… Sie erkennt diese Schuhe. Die Jeans, die Schuhe des Mannes, mit dem sie nur noch auf dem Papier verheiratet ist. Sollte er… sollte er wirklich in ihr Haus eingedrungen sein? Oder jemanden damit beauftragt haben? So wie er ihr immer gedroht hatte: „Ich hab Geld gespart, ich muss nur jemanden dafür bezahlen, ich muss es nicht mal selber machen. Froh wirst du jedenfalls nicht mehr, das verspreche ich dir!“ Der Schatten bewegt sich weiter fort, irgendwann hört sie das Quietschen des Hoftores. Sie atmet leise auf. Er ist fort. Die Gefahr ist vorüber. Zumindest glaubt sie das, bis sie sieht, wie sich langsam die Schlafzimmertür öffnet. Erneut erstarrt sie vor Angst, sie liegt völlig bewegungslos auch in der Hoffnung, man möge sie nicht entdecken. Großer Gott, was soll sie nur tun? Sie wagt kaum zu atmen, sie sieht, wie sich ein Mann durch das Zimmer bewegt, auf das Fenster zu, wie er dort stehen bleibt und hinausschaut in die Nacht. Als er sich umwendet und auf ihr Bett zukommt, hofft sie bis zuletzt, dass er sie in der Dunkelheit nicht sehen möge. Nicht erkennen möge, dass da jemand im Bett liegt. Doch er hockt sich vor ihr Bett, natürlich weiß er, dass sie da ist. Er sagt nichts, er rührt sie auch nicht an, doch sie spürt diesen süßen, klebrigen Duft, den er ihr in das Gesicht zu fächeln scheint. Ebenso spürt sie, wie dieser Duft ihren Körper lähmt, ihre Gedanken lähmt und sie weiß, wenn sie jetzt nicht reagiert, wird er ihr etwas Schreckliches antun. In dem Moment, als er nach ihr greifen will, schreit sie laut, durchbricht diesen Bann, diesen lähmenden süßen Geruch – sie hebt den Arm und zerschlägt damit genau diesen Moment.
Alles ist vorbei. Der Mann ist fort. Der Geruch ist fort. Die Musik, das Pfeifen – nichts ist mehr zu hören. Sie fühlt ihren Herzschlag bis in den Hals hinauf, in ihren Schläfen pocht es. Mit zitternden Händen macht sie Licht. Da ist niemand. Hier ist niemand. Mit ebenso zitternden Beinen steht sie auf, macht in jedem Zimmer Licht, nimmt ihr Telefon in die Hand, geht weiter in die Küche. Alles ist wie immer, nichts ist gestohlen, nichts ist ausgetauscht. Sie berührt ihre Möbel, so als müsse sie sich vergewissern, dass alles wirklich so ist, wie sie es auch sieht. Die Tür zur Terrasse ist fest verschlossen, auch die Haustür ist wie immer von innen versperrt. Überall löscht sie wieder das Licht, nur nicht in ihrem Schlafzimmer. Bis zum Morgen liegt sie so, in der Angst, wieder einzuschlafen und so die Kontrolle über ihre Gedanken zu verlieren, in der Angst, dem ausgeliefert zu sein, das in ihrem Unterbewusstsein schlummerte.
Sie nimmt nur wahr, wie der Regen auf das blecherne Fensterbrett schlägt. Und es klingt wie… wie wenn Folie knistert.

4 Kommentare:

Clara Himmelhoch hat gesagt…

Hallo, willst du eine Frau Sebastina Fitzek werden?

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Ich musste erst mal googeln, von wem Du da sprichst;) Nein Clara, will ich nicht. Das ist einer meiner Alpträume, den ich am Morgen danach aufschrieb. Es war in der Nacht von einem Freitag zum Samstag. Am Montag erfuhr ich, dass mein Ex an jenem Freitag mein Scheidungsbegehren per Post erhalten hatte und er stand eben Montag wütend in der Firma vor der Tür "Du weißt genau, dass ich keine Scheidung will!"

Nelly aus Sachsen hat gesagt…

Sehr gut geschrieben. Als Traum Horror

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Das war es auch, Nelly. Was mich am meisten ängstigte, war, dass ich während des Traumes gar nicht dachte, dass ich träume. Sondern dass ich das Gefühl hatte, ich sei wach, ich sei aufgewacht, bevor das alles "passierte".
Ich habe diesen Traum nur ein einziges Mal geträumt, damals im Sommer 2005. Aber ich könnte ihn noch heute vollständig aus dem Gedächtnis abrufen.