Sonntag, 19. August 2012

The Million Dollar Hotel

Bevor ich mit dem eigentlichen Schreiben beginne, möchte ich Euch gern noch einen Titel vorstellen. Ich habe ihn vor kurzem erst entdeckt, jedoch in einer reinen Piano Session, die mir persönlich noch besser gefällt.
Weil sie einfach eindrucksvoller ist.
Doch diese Piano Version gibt es bei youtube nicht...
...eindrucksvoll bleibt der Titel, so finde ich, dennoch..



Heute Abend bin ich nun wieder nach Hause gekommen, und das Telefon zeigte Anrufer, die irgendwie auch gemischte Gefühle in mir hervorriefen. Irgendwie... ungute Gefühle. Wenn ich das einmal gesehen habe, kann ich es nicht mehr ausblenden, nicht so tun, als habe ich es nicht gesehen. Dann will ich mich den Dingen stellen, welcher Art sie auch immer sein mögen. Trotzdem habe ich erst einmal in Ruhe meine Taschen ausgepackt, die windfrische Wäsche mit einem zarten Hauch von Salz und Weichspüler, der Sand in den Schuhen, die Muscheln, die Steine.
Und endlich zu dem Rückruf durchgerungen, erreichte ich am anderen Ende der Leitung heute Abend niemanden mehr, vielleicht war 21 Uhr einfach auch zu spät, um zurückzurufen, vielleicht aber... sollte es einfach auch so sein, um diesen Abend in Ruhe und Stille ausklingen lassen zu können.
Es ist schon eigenartig, dass man mit einem Menschen jahrelang unter einem Dach leben, in einem Bett schlafen konnte, und dass mit Abstand und nach einer langen Zeit  der Trennung nur eine Ahnung bleibt, sobald man die Nummer im Display des Telefons sieht: Es kann nur Streit geben um egal was.
Doch diese Empfindungen verdränge ich an diesem Abend. Heute Abend möchte ich mich nur an die vergangenen Tage erinnern, an das, was sie in sich trugen.
Ruhe. Stille. Geborgenheit. Wohlfühlen. Liebe. Zutrauen. Entspannung. Entkrampfung.
Mir ist heute Morgen, als ich erwachte, zum ersten Mal bewusst geworden, dass ich schon seit einigen Tagen keinen Schmerz mehr in meinem Körper fühle. So überhaupt keinen mehr. Ich hatte mich daran gewöhnt, dass er da war. Mal mehr, mal weniger, mal ganz weg. Ein ständiger Begleiter, der mir einfach nicht von der Seite weichen wollte. Und jetzt...
OK - ich kann noch immer nicht auf einem Stuhl sitzen, ohne ihn nach einer Weile nicht doch wieder zu spüren. Gerade die stundenlange Heimfahrt heute - ich spürte Freund Schmerz ganz nah bei mir - und doch verließ er mich, kaum dass ich dem Auto entstiegen war, den Körper dehnte und streckte und noch ein wenig in der unglaublich heißen Abendsonne herumlief. Ein so wunderbares Gefühl, ein so wunderbares Lebensgefühl...
Ich meine, es ist noch gar nicht so lange her, oder empfinde ich es nur als noch nicht so lange her?, da gaben mir mehrere Ärzte unabhängig voneinander zu verstehen: "Ich weiß nicht mehr weiter, wir haben alles getan, leben Sie damit, es wird nicht mehr besser werden." Manchmal finde ich es gut, wenn Ärzte irren.
Aber mir ist auch klar geworden: Ich muss mein Sportprogramm wieder intensivieren. Ich muss wieder mehr tun. Nicht nur wegen Freund Schmerz, das muss ich gestehen. Ich bin gerne eine Frau und diese auch gern mit durchaus weiblichen Rundungen. Aber aus dem Leim gehen möchte ich eben auch nicht.
Und wenn ich eines Tages 104 Jahre alt geworden bin, dann will ich aufrechten Ganges und ohne Rollator zum Schönheitschirurgen gehen und sagen: "Hören Sie mal, ich hab da so ne Falte am Allerwertesten, die hätt ich gerne glattgezogen." Und wenn er mich fragen würde, ob ich das tatsächlich dort und nicht woanders glattgebügelt hätte, dann würde ich grinsen und sagen: "Jungchen, glattgezogene Fratzen gibts doch nun wirklich schon genug, da wirds ja selbst dem Satan angst & bange."
Was ich eigentlich sagen will und was mich beschäftigt, auch seit ich den nunmehr aktuell letzten Kommentar gelesen habe: Ich habe immer gerne gelebt. Immer. Jeden einzelnen Tag. Auch wenn es durchaus Zeiten gab, in denen mir das Atmen schwerfiel. In denen ich nicht wusste, wie es schon morgen weitergehen sollte. Ob ich meine Kinder aufziehen, versorgen könnte. Ob meine Kraft für das Leben ausreichte, für all das, was es zu bewältigen galt. Du ziehst von zu Hause aus, nein, eher flüchtest du Hals über Kopf, und alles, was du mitnimmst, ist dein Kind und die Sachen zum Anziehen. Du hast keine Wohnung mehr, du hast keinen Job mehr und du erfährst in genau diesen Tagen, wer wirklich dein Freund ist und zu dir steht - und auch, mit wem du wirklich all die Jahre verheiratet warst. Ich glaube daran, dass man einander erst erkennt, wenn alles vorbei ist. Dass sich mit einer Trennung erst zeigt, wer du selbst und wer der andere wirklich ist.
Ich gehöre zu denen, die noch heute schockiert sind über das, was sie damit erkannten, was sie sahen, was sie hörten, was sie durchlebten. Wenn du nicht mehr essen und nicht mehr schlafen kannst, wenn dir die Haare ausfallen und die Nägel wegbrechen und das Blut dir wegläuft wie Wasser. Wenn du hohläugig und mit eingefallenen Wangen durch die Welt gehst und dir wegknickt, wonach du auch greifst.
In dieser Zeit lernst du vor allem eines: Wie viel Kraft wirklich in dir selber steckt.
In dieser schlimmsten Zeit meines Lebens gab es einen einzigen Moment, in dem ich an diesem Fenster meiner neuen Wohnung stand. Es war geschlossen und ich lehnte mit dem Kopf an, die Stirn auf diesem kühlen Glas. Und ich schaute hinunter. Bewegungslos. So vollkommen bewegungslos und in mir - daran erinnere ich mich so genau, als wäre es gestern gewesen - war alles ganz still. So still.
Und ich schaute hinunter auf die Straße und dachte: "Lass dich fallen... Wenn du dich jetzt einfach nur fallen lässt, ist alles vorbei. Und niemand kann dir mehr weh tun."
Ich weiß noch, dass ich sehr müde war. So sehr müde. Und so leer. Aber ich habe nicht die Hand gehoben, um das Fenster zu öffnen. Ich habe es nicht einmal versucht. Weil ich niemals ernsthaft vorhatte, genau das tun zu wollen. Warum hätte ich das auch tun sollen? Das Leben aller anderen würde weitergehen, die Erde würde sich weiterdrehen, irgendwann würde sich niemand mehr an mich erinnern - und ich wäre einfach nur weg.
Und das wars? Das soll es gewesen sein? Und wofür? WOFÜR?
Natürlich frage ich mich schon auch: Wieso kann ich diese Zeit und überhaupt das Erlebte nicht einfach hinter mir lassen, in ein Zimmer sperren, die Tür abschließen und den Schlüssel versenken? Warum muss ich den Schlüssel steckenlassen und doch immer wieder mal in dieses Zimmer hineinschauen?
Ich denke, wohl auch deshalb, weil ein Zurückschauen für mich nicht immer zwingend auch ein Rückschritt ist. Sondern vor allem der Blick darauf, wo ich heute stehe und wie sehr dankbar ich all jenen Menschen bin, die mich entweder bis hierher begleiteten oder auch die es mir ermöglichten, heute hier so zu stehen. Und auch, weil ich zu oft an mir selbst zweifle und sehen muss, was ich auch aus eigener Kraft erschaffen habe.
Ich kann nicht so tun, als hätte es all das, was war, nie gegeben. Ich kann nicht so tun, als würde jeden Tag die Sonne scheinen und wäre die Welt nur aus lauter bunten Murmeln gemacht und wäre die Vergangenheit ein Alptraum, der längst ausgeträumt sei.
Nein, für mich wäre der Tod kein guter Freund. Ich bin eher die, die sich nach der Sonne reckt und die die Sonnenstrahlen sucht und mit den Fingern erhascht. Ich bin eher die, die sich ins Gras legt und die Blumen betrachtet, die den Schmetterlingen hinterherschaut und lächelnd die Arme dabei aufstützt. Ich bin die, die vor zwei Tagen mit dem Fahrrad versehentlich einen Käfer überfuhr und dachte: "Oh scheiße Kleiner, tut mir leid!" Ich bin die, die ihren 34. Geburtstag ganz allein mit einer Flasche Sekt im Bett verbrachte und sich in den Schlaf weinte; die ihr darauffolgendes Weihnachten ganz allein mit einer Flasche Rotwein im Bett verbrachte und so lange auf das Leben mit sich selbst anstieß, bis das Alleinsein nicht mehr weh tat. Und die trotz allen Schmerzes und all der Tränen irgendwie immer ahnte: "DAS WAR ES NOCH NICHT!"
Das konnte es noch nicht gewesen sein.
Und das war es auch noch nicht gewesen.

Vor zwei Tagen habe ich den Film "The Million Dollar Hotel" gesehen. Er ist so ganz anders als ich es vermutet oder erwartet hätte. Der Film beginnt damit, dass jemand sich vom Dach eines Hauses stürzt und erst im freien Fall feststellt, wie wunderbar und einzig das Leben ist... Und dann rollt sich diese ganze Geschichte auf. Die Beweggründe, die ihn irgendwann auf das Dach und zu diesem Sprung getrieben haben. Wenn Ihr mich fragt: Beinah war mir der Film zu düster, nicht nur von der Aussage her, sondern insbesondere auch der Bildtechnik her.. Und dennoch - was bleibt, ist diese innige Aussage an das Leben: Wach auf - und lebe, liebe, bevor es zu spät ist.

Lieber Herr Mitleser, Deine Kommentare lese ich sehr aufmerksam, so wie ich jeden Kommentar immer sehr aufmerksam lese. Es wäre schlimm, wirklich schlimm, wenn ich das als "zuviel" oder "unangebracht" empfinden würde, was Du schreibst.



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