Mittwoch, 6. Juli 2011

Offener Brief

Liebe Frau Tankstellenangestellte,

heute morgen bin ich wieder zu Ihnen gekommen, habe den Wert meines Wägelchens verdreifacht, indem ich einfach nur volltankte und als ich zu Ihnen an die Kasse kam und meine Sonnenbrille abnahm, haben Sie mich wie immer total freundlich angelächelt und gefragt: "Käffchen? Heute einen großen?" Und ich habe begeistert genickt und beinah flehentlich geantwortet: "Oh ja, einen ganz großen!" und ich bin nicht eine einzige Sekunde lang auf die Idee gekommen, ob Sie nur darauf aus waren, mir vierzig Cent mehr wie sonst abzuknöpfen. Ihr Lächeln war so warmherzig und voller Güte, und das schon um acht Uhr morgens, dass ich genau wusste: Sie wollen mir wirklich etwas Gutes tun. Sie sehen mir sofort an, dass ich die letzten Nächte nicht genügend Schlaf bekam, und vor allem wissen Sie ebenso so schnell, was mir wirklich gerade fehlt.
Es ist nämlich so, dass die Menschen mehr und mehr nur ihre eigenen Bedürfnisse sehen und bis zu ihrem eigenen Tellerrand schauen, egal wie eng oder weniger eng du mit ihnen befreundet bist; dass sie sich in erster Linie nur für sich selbst interessieren und sich nicht fragen, ob ihr Kick auch mein Kick ist oder ob sie in völlig respektloser Art und Weise in derben Stiefeln über deine gezogene Linie latschen frei nach dem Motto: "Ich versteh dich ja, aber ich muss dir da mal was erzählen."
Was sagen Sie dazu, Frau Tankstellenangestellte? Würden Sie solchen Menschen auch aus freien Stücken den leckersten Kaffee aller Tankstellen servieren und ihm heimlich noch ein Stück Schokolade dazulegen? Oder würden Sie irgendwann auch einen dicken Hals kriegen und ihm die Schokolade an seinen Gaumenzipfel klemmen und den schön heißen Kaffee über die Hosen kippen? Ich bin sonst nicht so, Sie kennen mich doch inzwischen bestimmt, ich komm ja schließlich regelmäßig jede Woche zu Ihnen (ich muss, leider, die Arbeit ruft aus der Ferne, leider) und wenn ich die Wahl habe, stelle ich mich immer an Ihre Kasse. Ich hoffe, Ihr Chef weiß, was Sie für ihn sind, was für ein Geschenk Sie für uns Kunden sind. Ich weiß nicht, ob ich Sie mag, ich kenn Sie ja gar nicht, aber ich mag Menschen, die eine ehrliche Freundlichkeit ausstrahlen, eine nicht aufgesetzte Freundlichkeit, wo beim Lachen gleich beide Zahnreihen entblößt werden (Garfield lässt grüßen), sondern eine, die den ganzen Tag hell macht. Und ich kann Menschen nicht mehr ertragen, die respektlos und rücksichtslos sind. Zugegeben, früher war meine Schmerzgrenze wesentlich höher, hatte ich ein buchstäblich dickes Fell. Ging Ihnen das genauso? Ich meine, es ist doch ok, wenn ich denke, dass Sie rein vom Alter her meine große Schwester sein könnten? Eine, die ich nie hatte, mir aber immer wünschte, damit ich mich nicht immer mit meinen Brüdern prügeln musste. Dann ist meine Annahme Ihres Alters doch keine Beleidigung, oder?
Jedenfalls waren die letzten Tage nicht so einfach für mich, daher der wenige Schlaf, wissen Sie? Ja klar wissen Sie, Sie habens mir ja pronto angesehen. Und den Rest haben mir am Montag die Servicefreunde der Telekom gegeben, die mich derart für dumm verkaufen wollten, dass ich mir die entnervte Frage: "Ja bin ich denn hier nur von Dilletanten umgeben?" nicht mehr verkneifen konnte - woraufhin mich die gute Dame von der Telekom prompt in die Warteschleife und damit ins Servicenirvana schickte. Ich sag Ihnen, Frau Tankstellenmaus, bei der gestrigen Befragung nach der Kundenzufriedenheit habe ich denen noch ein paar Takte erzählt, das können Sie wissen! Ich weiß noch, dass sich bei einer ähnlichen Situation vor Jahren meine Freundin auf den Stuhl warf, begeistert auf die Schenkel klatschte und rief: "Is ja geil, so kenn ich dich noch gar nicht - aber es steht dir verdammt gut!" Was soll ich sagen? Ich hatte einen gefühlten Blutdruck von 360, aus meinen Augen schossen Blitze und die Synapsen vibrierten *ding ding ding*, aber wenigstens war damit auch meine Lethargie der letzten Tage wie weggewischt.
Ich frage jetzt mal Sie: Darf man nicht auch mal ein, zwei Tage durchhängen und trotzdem keine depressive Verstimmung haben? Darf man nicht einfach nur mal ein bisschen fertig sein und herumliegen, die Zeit vertrödeln und sich den Bauch kratzen, weil einem die Ideen für geistreiche Unternehmungen ausgegangen sind - und es fühlt sich trotzdem ok an? Darf ich auch mal schreien und das Telefon an der Wand zerlegen, weil mein Wunsch nach Ruhe mal eben so übergangen wird? Hätten Sie das auch gerne, wenn Sie grad nicht so prickelnd drauf sind: anlehnen, schöne Musik hören - und einen riesigen Schokokuchen essen? Ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen?  Ob Sie mich verstehen würden, auch wenn Sie selbst alles ganz anders machen?

Wäre der Sprit nicht so beschissen teuer, ich würde glatt zweimal die Woche zu Ihnen kommen und meine Akkus an Ihrer Freundlichkeit aufladen. Menschen wie Sie braucht das Land. Das wollte ich Ihnen einfach nur mal sagen.

Herzlichst,
Helma Ziggenheimer

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